Mattanza

Die kleine süditalienische Insel Katria richtet ihr Leben seit jeher nach dem Meer. Der Thunfisch sichert jährlich die Einkommen der Einwohnenden. Dieser Thunfisch wird traditionell vom Rais angeführt. Als dieser keinen männlichen Nachfolger hat, wird zum ersten Mal in der Inselgeschichte eine Frau zum neuen Rais. Nora muss sich gegen die anderen Fischer beweisen. Aber auch zunehmend mit modernen Problemen, welche die Insel heimsuchen und bedrohen, auseinandersetzen. Ein schöner, aber auch trauriger Roman, welcher auf 192 Seiten viele wichtige Themen bespricht. Seien es patriarchale Rollenbilder, Tourismus, welcher Veränderungen bringt, Firmenbesitzer*innen, welche nur den eigenen Profit interessiert, die Festung Europa, welche Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken lässt, oder viel mehr.

Germana Fabiano – Mattanza

Mare 2023, 978-3-86648-670-6

Ein ehrenhafter Abgang

Éric Vuillard ist in Frankreich ein bekannter und mehrfach ausgezeichneter Autor. Im deutschsprachigen Raum wird er zunehmend bekannter. Sein Mix zwischen historischen, eher unbekannten, Tatsachen und romanhaften Fragmenten hat ihm ein eigenes Genre eingebracht. Grosse Ereignisse serviert Vuillard in kleinen Häppchen. Im aktuellen Buch spielt der Abzug Frankreichs aus Vietnam die Hauptrolle des Buches. Vuillard zeigt dabei schonungslos die einzelnen Interessen der politischen Persönlichkeiten Frankreichs auf. Dabei geht es hauptsächlich um Geld. Das Kapital bestimmt einen Grossteil der Entscheidungen. Spannend und tiefgründig und insbesondere ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, zeigt Vuillard die Kolonial- und Kapitalinteressen Frankreichs in Vietnam auf. Nicht nur sprachlich ein Muss zum Lesen.

Éric Vuillard – Ein ehrenhafter Abgang,

Matthes + Seitz, 2023, 978-3-7518-0908-5

Die Netanjahus

Der Protagonist Ruben Blum ist der einzige Jude am kleinen Corbin College. Der Historiker beschäftigt sich aber nicht mit der Geschichte des Judentums, sondern mit Steuer- und Finanzgeschichte. Durch die Ernennung in eine Kommission, welche die Neuanstellung von Ben-Zion Netanjahu berät, wird er dennoch dazu verdonnert, sich mit der Geschichte des Judentums auseinanderzusetzten. Dass er zusätzlich die ganze Familie beherbergen muss, wird für ihn zum Graus. In sehr humorvoller und überspitzter Form porträtiert Cohen die Familie Netanjahu. Dennoch kommen dabei einige unangenehme Tatsachen über die Netanjahus ans Licht. Ein sprachlich sehr eleganter Roman, der 2022 den Pulitzerpreis gewonnen hat.

Joshua Cohen- Die Netanjahus

Schöffling & Co, 2023, 978-3-7317-6224-9

Casa Conti

Der bereits 1944 veröffentlichte Roman der umtriebigen Autorin Aline Valangin spielt in einem kleinen Dorf im Tessin. Nach langen Jahren in Mailand kehrt Alba in ihren Heimatort zurück zu ihrem Vater. Die Rückkehr wird von ihrer Schwester kritisch beäugt. Alba fühlt sich weniger willkommen als gewünscht. Auch stellt sich die Frage, wie lange sie überhaupt bleiben will und kann. Zentrum des Romans ist die sagenumwobene Villa Conti. Albas Vater hat diese bereits vor Jahren erworben und seither haben viele Dorfbewohner*innen ein Auge auf das Haus geworfen. Der plötzliche Tod des Vaters Giuolio sorgt dann auch umgehend für einen Erbstreit um die Villa. Hierbei kommen, aufgrund der patriarchalen Strukturen, aber nur die Männer der beiden Schwestern in den Genuss, über das Erbe zu verhandeln. Ein eindrücklicher und sprachlich schöner Roman, welcher einen guten Einblick in die damalige Zeit und deren Verhältnisse gibt.

Aline Valangin – Casa Conti

Limmat Verlag 2022, 978-3-03926-040-9

Violeta

Die Protagonistin Violeta del Valle schreibt ihrem Enkel im Jahre 2020 einen langen Brief. In diesem blickt Violeta auf ihr 100-jähriges Leben zurück. Bereits bei ihrer Geburt wütet die Spanische Grippe, doch die Familie übersteht diese einigermassen unbeschadet. Anders als die Weltwirtschaftskrise, welche den Reichtum der Familie zu Nichte macht. Neben der eindrücklichen Familiengeschichte, welche Violeta auch immer wieder mit dem Patriarchat in Konflikt bringt, durchleben die Leser*innen mit der Protagonistin 100 Jahre Weltgeschichte. Diese streift Allende immer wieder, bis sie dann zumindest beim faschistischen Putsch in Chile ausführlicher wird. Die Diktatur Pinochets und die Schrecken dieser nehmen mehr Platz ein als andere historische Ereignisse. Die Protagonistin blickt zufrieden auf ihr ereignisreiches Leben zurück und das ist auch die Stärke des Buches. Violeta lässt sich von all den Niederschlägen nicht entmutigen und geht ihren Weg.

Isabel Allende – Violeta

Suhrkamp 2022, 978-3-518-43016-3

Die leuchtende Republik

Einen nachdenklichen und sprachlich wunderbaren Roman hat der Autor André Barba geschrieben. Die verschlafene Provinzstadt San Cristóbal kämpft mit der Hitze und wenig passiert. Bis eines Tages plötzlich 32 fremde Kinder auftauchen. Das Leben in der Stadt ändert sich schlagartig. San Cristóbal steuert immer mehr auf eine Katastrophe zu. Die fremden Kinder sprechen eine unbekannte Sprache und jagen den Bewohner*innen zunehmend Angst ein. Jahre danach schreibt ein Augenzeuge eindrücklich, wie und zu welchem Unglück es kam. Ein eindrückliches Buch, welches viele moralische Fragen an die Leser*innen stellt.

Andrés Barba – Die leuchtende Republik

Luchterhand 2022, 978-3-630-87599-6

Beleidigung dritten Grades

Eine Herausforderung zu einem Duell in der heutigen Zeit? Kaum vorstellbar. Doch genau eine solche erhält der Psychiater Oskar B. Markov. Der Ex-Freund seiner neuen Freundin kann die Trennung nicht akzeptieren und fordert ihn daher zum Duell heraus. Markov geht mit der Herausforderung zur Polizei und erntet nur Kopfschütteln und Verwunderung. Der komische Start des Romans öffnet danach einen historischen Nebenstrang. Dort wird es mehr als ernst, denn es geht um das letzte deutsche Duell. Kaum verwunderlich, sind dabei zwei SS-Leute involviert. Der komische Roman gewinnt an Fahrt und die bitter ernste historische Abhandlung lässt tief in die Gräuel des NS-Staates blicken. Ein sehr lesenswerter Roman, der rasant ist und sich gekonnt von ulkig zu todernst wandelt.

Rayk Wieland – Beleidigung dritten Grades

Kunstmann 2022, 978-3-95614-495-0

Das Wasser des Sees ist niemals süss

Ein Roman über Rom und dessen Provinz abseits seiner touristischen Höhepunkte. Die junge Autorin Giulia Caminito zeichnet ein Bild der italienischen Unterschicht, welche wenig zu gewinnen hat. Der Vater im Rollstuhl und schlecht gelaunt, die Mutter andauernd auf Trab und im Versuch die Familie über Wasser zu halten. Dabei im ständigen Kampf mit den Behörden, um eine anständige Sozialwohnung zu bekommen. Die Protagonistin Gaia ist gut in der Schule, aber die Perspektivlosigkeit Italiens gebildeter Jugend wird für sie schon bald offensichtlich. Klassengegensätze spiegeln sich andauernd in diesem Roman. Gaias Wut wird zunehmend stärker. Ein schonungsloser Roman, welcher auf dem Leben dreier Frauen beruht und die Fehler des italienischen Bildungssystems schonungslos offenbart.

Giulia Caminito – Das Wasser des Sees ist niemals süss

Wagenbach 2022, 978-3-8031-3349-6

Einsteins Hirn

Der österreichische Autor spielt erneut gekonnt mit Fiktion und Wahrheit. Der Protagonist Thomas Harvey ist ein einfacher Mann. Er ist überzeugter Quäker und Pathologe. Sein Leben verläuft in ruhigen Bahnen, bis er nach dem Tod von Einstein dessen Leiche untersuchen soll. Das Hirn von Einstein zieht Harvey in seinen Bann. Mit ihm beginnt eine turbulente Reise durch Amerika. Sobald das Hirn mit Harvey zu sprechen beginnt, ist der Pathologe gänzlich besessen von diesem. Der Roman durchläuft dabei auf witzige Art die moderne amerikanische Geschichte, von der Ermordung Kennedys bis zum Vietnamkrieg.

Franzobel – Einsteins Hirn

Hanser 2023, 978-3-552-07334-0

Treue

Hernan Diaz hat mit seinem Roman Treue eine literarische Matrjoschka geschaffen. Zentrum aller vier Geschichten ist die Finanzwelt der 1920er und 1930er Jahre New Yorks. Technisch ein Meisterwerk. Für die Leser*innen nicht immer ganz einfach mitzukommen. Das Buch besteht aus vier Romanteilen; beginnend mit einem Roman im Roman, gefolgt von einer Autobiografie, danach erscheint ein Memoir und der Abschluss bildet ein geheimes Journal/Tagebuch, wobei alle in unterschiedlichem Stil geschrieben sind. Alle Teile drehen sich dabei um den Finanzmogul Andreas Brevel und dessen verstorbene Ehefrau Mildred, die Brevel erst interessant gemacht hat. Ein Roman spielt mit der Leser*innenschaft und kritisiert knallhart das Märchen vom «Alles ist möglich im Kapitalismus».

Hernan Diaz – Treue

Hanser 2022, 978-3-446-27375-7