In den Farben des Dunkels

Die beiden Teenager Saint und Patch sind unzertrennlich. Zumindest bis Patch eines Morgens ohne erkennbaren Grund entführt wird. Während Saint die Hoffnung und die Suche nach ihrem besten Freund niemals aufgibt, durchlebt Patch die Hölle. Er wird in einem stockdunklen und modrigen Raum festgehalten, ohne Chance auf Orientierung oder gar ein Entkommen. Die meiste Zeit sitzt er allein in seinem Verlies, nur ab und zu leistet ihm Grace Gesellschaft und erzählt ihm von ihrem Leben draussen, wie und wo sie aufgewachsen ist, und macht dem Jungen die langen Stunden so etwas erträglicher. Auch ihr Gesicht darf Patch ab und an berühren, um sich so ein Bild von ihr machen zu können.

Viele Monate nach der Entführung gelingt es Saint endlich, dem Täter auf die Spur zu kommen und ihren Weggefährten zu befreien. Als dieser der Polizei und dem psychologischen Dienst von Grace erzählt, wird ihm erklärt, sein Gehirn habe ihm einen Streich gespielt, um die Gefangenschaft erträglicher zu machen. Es gebe keine Hinweise auf besagtes Mädchen. Doch Patch ist sich sicher, Grace existiert. Und so beginnt er zu malen. Er malt aus seiner Erinnerung, aus seinem Empfinden und schafft ein Porträt von Grace nach seiner Vorstellung. Darauf folgt die jahrelange obsessive Suche, wobei er auf immer mehr verschwundene Mädchen stösst und diese für die Angehörigen ebenfalls malt. Bald ist Patch zwar ein gefeierter Künstler, die innere Unruhe und die ewige Suche aber treibt ihn weiterhin um.

Beim Lesen der knapp 600 Seiten begleiten wir die Freundschaft von Saint und Patch vom ersten Treffen, über die Zeit während der Entführung und Gefangenschaft bis zur Lösung der Frage, ob Grace real existiert oder doch nur ein Hirngespinst war. Ein geschickt gestrickter Spannungsroman, erzählt über mehrere Jahrzehnte, der sich nicht nur dem Schicksal sondern auch der bedingungslosen Liebe widmet.

Whitaker, Chris – In den Farben des Dunkels

Piper 2024, 9783492071536

Einer fehlt

Georg, Paul und Schubert kennen sich seit Ihrer Schulzeit, bzw. seit einer Italienreise in der 1970er-Jahren. Wenn die drei Freunde heute auch an unterschiedlichen Orten leben und wirken, so verbindet sie doch eine gemeinsame Geschichte und sie haben sich über all die Jahre nie aus den Augen verloren.
Als sich Schubert nun bei Paul meldet und ihm mitteilt, dass Georgs Frau verstorben ist, steht für beide fest, dass sie zu Georg fahren und sich um ihn kümmern wollen, ja, müssen. Sie verabreden sich in Wien an der Wohnung des Freundes, der auf keine Anrufe reagiert und nach Aussage seiner Tochter auch die Tür nicht öffnet.

Paul und Schubert wurden mit Georgs Frau nie richtig warm und können bis heute nicht verstehen, was ihr Freund an dieser Beziehung gefunden hat. Trotzdem ist ihnen bewusst, dass es für Georg die grosse Liebe war. Als sie ihn nun in Wien weder zu Hause antreffen noch eine Spur von ihm zu finden ist, sind die beiden zunehmend besorgt. Es gibt einen Hinweis auf einen Rückzugsort in Italien. Ausgerechnet Italien… Beinahe fünfzig Jahre nach ihrer ersten gemeinsamen Italienreise – damals noch in einer klapprigen Schrottkiste – begeben sich Paul und Schubert nun also wieder auf den Weg, diesmal jedoch eindeutig bequemer und mit mehr Komfort. Nach und nach entnehmen wir den Gesprächen im Wagen und den Gedanken der beiden die Geschichte dieser Dreiecksfreundschaft, was sie ausmacht und welche Erlebnisse sie über all die Jahre auch gefährdet hat.

Der deutsche Autor Thommie Bayer schafft es immer wieder, leichtfüssig die grossen Themen des Lebens anzusprechen. Seine Perspektiven sind oft unkonventionell und entspringen allen Schichten der Gesellschaft.

Eine leichte Sommerlektüre fürs Badetuch, unterhaltsam aber nie plump…

Bayer, Thommie – Einer fehlt
Piper 2024, 9783492070454

Der grosse Fehler

Jonathan Lee zeichnet in seinem biographischen Roman die Lebensgeschichte von Andrew Haswell Green nach. Die Erzählung beginnt jedoch mit dem Ende Greens, als er – aus einer Verwechslung heraus – 1903 vor seinem Haus in New York erschossen wurde.

Stück für Stück erfahren wir, wie Andrew 1820 in einem Kaff in Massachusetts geboren und in seiner Jugend, aufgrund einer erahnten Homosexualität, vom Vater nach New York geschickt wurde. Andrew lechzte früh nach Bildung, nach Wissen und in erster Linie auch nach Büchern. Als Hilfsarbeiter in einer Gemischtwarenhandlung lernt er Samuel Tilden kennen. Tilden wird zum ständigen Wegbegleiter und Förderer von Green, zur heimlichen grossen Liebe. Andrew zeigt im Lernen einiges Geschick und zeichnet sich durch seinen Arbeitseifer aus. Nach einem Umweg über eine Zuckerrohrplantage in Trinidad zeigte sich Andrews Gespür für Stadtentwicklung. Fortan beeinflusste Green die Entwicklung New Yorks massgeblich: So regte er den Anschluss Lower Manhattens an New York an, war Mitinitiant des Central Parks und gründete inmitten des Stadtparks die erste Public Library. Freier Zugang zu Büchern und somit auch zu Bildung war in jenen Jahren keine Selbstverständlichkeit und Andrew wollte ebendiesen unbedingt allen Bürger:innen New Yorks durch diese öffentliche Bibliothek ermöglichen. Eben hier hat der Autor Jonathan Lee auch die Tagebücher Greens aufgestöbert, auf deren Inhalt die Erzählung des Romans beruht.

Alternierend zur Lebensgeschichte Greens erfahren wir in eingestreuten Kapiteln von dessen Ermordung, von Korruption in New York und allgemein in den USA, vom Leben im 19. Jahrhundert.

Dieses Buch ermöglicht den Blick in eine Welt, die uns gänzlich unbekannt sein dürfte. Die wahrlich verschlungene und verrückte Lebensgeschichte Greens zeichnet ein Traumbild Amerikas, einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Zeitgleich entsteht der Eindruck, die staubige und dick stehende Stadtluft im Zuge der zunehmenden Industrialisierung zu riechen, die Armut der Mehrheit zu spüren und die Verzweiflung vieler geschilderter Personen wahrzunehmen. «Der grosse Fehler» ist ein absolut unaufgeregter Roman, eine Entdeckung und ein Geheimtipp – aber eines ist die Lektüre sicher nicht: Ein Fehler!

Lee, Jonathan -Der grosse Fehler
Diogenes 2024. 9783257247053

Das Haus am Gordon Place

Eigentlich wollte Professor Hunt für einige Nachforschungen nach New York. Doch kaum ist er gelandet, wird er unter fadenscheinigen Gründen aus der Warteschlange der Einreisenden ab- und in ein kleines Büro am Flughafen geführt. Dort erwartet ihn Emma Spencer, eine britische Agentin des MI6. Die Geheimdienstlerin eröffnet Hunt, dass in seiner Wohnung in der Nacht zuvor ein Mord geschehen sei und dass seine Unterstützung vor Ort dringend benötigt würde. Die Ermittlungen im Mordfall führen schnell in die Vergangenheit und damit mitten hinein in den Kalten Krieg und nach Wien in den Nachkriegsjahren.

In dieser Zeit betrieb der britische Geheimdienst gleich mehrere Abhörtunnel unter der «Hauptstadt der Spione», denn Wien war – wie auch Berlin zu dieser Zeit – in verschiedene Besatzungszonen aufgeteilt. Während sich die verschiedenen Besatzungsmächte das Wissen der Altnazis für eigene Zwecke zu eigen machten, entspann sich ein regelrechter Kampf um Informant:innen. Kidnappings, von teilweise unbescholtenen Bürger:innen, durch die Rote Armee waren an der Tagesordnung. Und just in diesem Gewusel von Geheimdiensten, Schwarzmärkten und Nachkriegsquerelen war auch Daphne Parson stationiert. Auch sie eine Agentin des MI6 und Vorbesitzerin von Hunts Wohnung am Gordon Place.

Mitreissend erzählt die Historikerin Karina Urbach in diesem Spannungsroman von einer Zeit voller Unsicherheiten, in der niemand dem Gegenüber wirklich trauen konnte. Geschickt verwebt sie historische Fakten mit Fiktion und klärt am Ende des Buches darüber auf, welche Teile des Buches zu welcher Kategorie gehören. Und wenn Sie wissen möchten, was die Dreharbeiten zum Film «Der dritte Mann» mit all dem zu tun hat, wäre die Lektüre dieser Neuerscheinung ein wohlgemeinter Tipp!

Urbach, Karina – Das Haus am Gordon Place
Limes 2024, 9783809027669

Die Känguru-Comics – Band 2

Die hier versammelten Comic-Stripes wurden für die Zeit online gezeichnet und kommen in diesem Band konzentriert als hübsches Comicbuch daher. Wieder erleben das Känguru und der Kleinkünstler so manches Abenteuer, die jedoch in den Romanen noch nicht enthalten sind. Dabei greifen die Bildergeschichten gewohnt geopolitische und gesellschaftliche Brennpunktthemen auf und liefern oft pointierte Antworten oder gar Lösungsvorschläge. In diesem Sinne: Schnapspralinen holen und loslesen!

Marc-Uwe Kling, Bernd Kessel, (Das Känguru), Die Känguru-Comics – Band 2

Carlsen 2023 , 978-3-551-73009-1

Das Cabaret der Erinnerungen

Am Abend bevor Samuel seine Frau und ihren frisch geborenen Sohn aus dem Krankenhaus nach Hause holen kann, hängt er seinen Gedanken nach und vertieft sich in Erinnerungen an die Kindheit und Familie. Dicht und doch locker erfahren wir die Geschichte seiner Grosstante Rosa, die nach Pogromen und Konzentrationslager schliesslich in den USA ihren Frieden gefunden hat.

Dieser Roman – manchmal nachdenklich, manchmal urkomisch – setzt sich auch mit der Frage auseinander, wie Erinnerung ohne Zeitzeug*innen weiterhin funktionieren kann, ja soll….

Joachim Schnerf, Das Cabaret der Erinnerungen

Kunstmann 2023, 978-3-95614-534-6

Das Café ohne Namen

Robert Simon ist allseits beliebt. Ohne zu murren bietet er Hand, wo Hilfe nötig ist und erledigt alle Arbeiten, die ihm zugetragen werden. Schliesslich möchte er sich seinen lange gehegten Traum erfüllen und ein Café eröffnen. Dieses ist – in der Wiener Innenstadt 1966 – am Rand des Marktes günstig gelegen. Und so treffen sich die skurrilsten Personen im «Café ohne Namen», erzählen uns ihre Geschichte und hängen ihren eigenen Träumen nach.

Robert Seethaler überzeugt erneut durch kluge Sätze und poetische Sprache. Dieses Buch ist Film und Gedicht zugleich, kurz: Wahre Lesefreude!

Rober Seethaler, Das Café ohne Namen

Ullstein Taschenbuch 2024, 978-3-548-06927-2

Der Feind

Die Stadt Bern steht nach einem Anschlag auf die Frauendisco in der Berner Reitschule kopf. Als wäre die Aufklärung und Verarbeitung dieses einschneidenden Erlebnisses nicht schon genug, hält eine Mordserie den Ermittler Sandro Bandini und die Journalistin Milla Nova auf Trab. Wo liegt der gemeinsame Nenner hinter den Tötungsdelikten?

In ihrem neusten Krimi nimmt uns die Autorin, Journalistin und Gerichtsreporterin Christine Brand einmal mehr mit durch die Gassen von Bern und mitten hinein in einen spannenden Fall…

Christine Brand, Der Feind

Blanvalet 2023, 978-3-7341-1394-9

Die Sonnenblumenschwestern

Aus der Perspektive dreier Frauen, erzählt uns Martha Hall Kelly eine Geschichte, die sich während des Sezessionskriegs in den USA abspielt. Die junge Georgeanna Woolsey, die es tatsächlich gegeben hat und deren Geschichte anhand historischer Dokumente nacherzählt wird, ist überzeugte Abolitionistin und Begründerin der ersten Schwesternschule in den Vereinigten Staaten. Zusammen mit ihren Schwestern engagiert sie sich unermüdlich karitativ und setzt sich für alle ein, denen es weniger gut geht. Währenddessen fristet die exemplarisch stehende Sklavin Jemma ihr tristes Dasein auf einer Farm in Maryland, das gezeichnet ist von Gewalt, Unterdrückung und Demütigung. Jemma ist Eigentum der ortsansässigen und raffgierigen Plantagenbesitzerin Anne-May, die zu allem bereit ist, um sich und ihre Habe vor den einmarschierenden Unionstruppen zu schützen.
Ein eindrücklicher Roman, der mit historischen Fakten gespickt, ein dunkles Kapitel in der Geschichte nacherzählt.

Martha Hall Kelly, Die Sonnenblumenschwestern

Limes 2022, 978-3-7341-1296-6

Was ich nie gesagt habe

Nach dem Sensationserfolg von «Stay away from Gretchen» legt Susanne Abel hiermit eine gelungene Fortsetzung vor. Der Moderator Tom Monderath ist inzwischen glücklich mit seiner Kollegin Jenny liiert und kümmert sich liebevoll um ihren Sohn Carl. Die Nachricht, dass er scheinbar einen niederländischen Halbbruder hat, wirft Tom aus den eben erst wiedererlangten gewohnten Bahnen. Nach einigem Zögern und Drängen von Jenny, stellt sich Tom nun auch der Familiengeschichte väterlicherseits. Dabei entdeckt er, was sein Vater und dessen Compagnon in ihrer Gynäkologischen Praxis alles getrieben haben und bald stellt sich nicht die Frage, ob Tom noch mehr Halbgeschwister hat, sondern wie viele…
Eine Geschichte mit feinem Humor, der gute Unterhaltung garantiert!

Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe

DTV 2022, 978-3-423-21892-4